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Anna Karenina – Leo Tolstoi

Anna Karenina. Als Anna Karenina nach Moskau reist, um die Ehe ihres untreuen Bruders zu retten, trifft sie dort in einer bedeutungsschwangeren Umgebung den Offizier Wronski. Beide verlieben sich ineinander und beginnen eine Affäre, misstrauisch beäugt von der Petersburger Gesellschaft. Es ist eine komplizierte Liebe, doch Anna ist bereit, alles zu opfern: ihre Ehe mit dem Regierungsbeamten Karenin, das Glück ihrer Kinder, ihr Ansehen und ihre Gesundheit.

Ausgabe von Anaconda
Ein beeindruckendes Werk

1878 erschien das Mammutwerk von Leo Tolstoi. Mit knapp 1300 Seiten bleibt er somit seinem „Leo Tolstoi“-Stil treu; ist doch auch sein anderes Meisterwerk Krieg und Frieden von ähnlich gigantischen Ausmaß.

Druck von allen Seiten

Obwohl Anna Karenina wie die Namen Effi Briest und Madame Bovary zunächst einmal Assoziationen mit Ehebruch hervorruft, geht es in Anna Karenina nicht unbedingt in erster Linie um Ehebruch. Vielmehr richtet Tolstoi in seinem Roman einen Blick auf die russische Gesellschaft im 19. Jahrhundert und den unfassbaren Druck, der damals herrschte.

Rollenverteilung und Erwartung an die einzelnen Geschlechter verfolgen jeden der Protagonisten:

Lewin stürzt immer wieder in Existenzkrisen, da seine eigenen Ansprüchen und die der Gesellschaft ihn beinahe zu zerbrechen drohen. Ist es doch für einen Mann seines Standes und seiner Verantwortung nur allzu verpflichtend, sich zu verheiraten.

Kitty unterhält sich mit ihrer Mutter, Schwester und weiteren weiblichen Randfiguren am liebsten über die „wichtigsten Bestandteile eines Frauenlebens“ – ein Heiratsantrag und allem, was dazugehört.

Anna wird aufgrund ihrer in die Öffentlichkeit gezerrte Liebe zu Wronski und ihrer daraus resultierenden Untreue ihrem Ehemanns gegenüber zunehmend von der Gesellschaft geächtet. Auf gesellschaftlichen Anlässen wird sie von den „feinen, anständigen“ Damen der Gesellschaft sogar rüde beschimpft.

Doppelmoral

Wronski hingegen genießt überall weiterhin Ansehen, ebenso wie Annas chronisch fremdgehender Bruder Stiwa (eine furchtbare Figur, man möge es mir verzeihen🙄). Dieser ist aufgrund seiner Geselligkeit sogar gern gesehener Gast auf Zusammenkünften, über seine Untreue wird kein einziges Wort verloren.

Wird dies in Wronskis Fall noch mit dessen Unabhängigkeit „entschuldigt“ (er ist unverheiratet und begeht somit keinen Verrat an jemanden), wird im Falle von Stiwa deutlich, warum dies so ist. Er ist ein Mann und darf sich somit gerne anderweitig umschauen (schließlich ist es auch nicht ganz so einfach für ihn, dass seine treu-naive Frau Dolly nicht jünger wird, *Ironie off*), ohne dass dies von der Gesellschaft geächtet wird.

Anna jedoch, eine verheiratete Frau, zudem noch Mutter, die es wagt, aus ihrer unglücklichen Ehe auszubrechen und sich über die ihr auferlegten Zwänge hinwegzusetzen, stößt der feinen Gesellschaft sauer auf. Fast wirkt es so, als würde sie nicht nur ihren Mann, sondern auch ganz Russland verraten.

Sinn des Lebens

Die vorherrschenden Themen in Anna Karenina sind hiermit deutlich Schuld, Verurteilung, Vergebung und der Sinn des Lebens. Eine Frage, die sich besonders Lewin immer wieder stellt.

Mit diesen existenziellen Problemen geht jede Figur anders um und zieht letztendlich ihre eigenen Schlüsse.

Verschiedene Familienkonstruktionen verdeutlichen dies, eingeleitet durch einen der berühmtesten Sätze der Weltliteratur. Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, aber jede unglückliche Familie ist auf ihre besondere Art unglücklich.

Alle Familien in Anna Karenina erleben Glück und Unglück auf ihre eigene Art und Weise und oftmals verschieben sich diese Gefühlsebenen oder vertauschen die Seiten.

Ist Lewin einige Zeit zutiefst unglücklich ob seiner Liebe zu Kitty, vollzieht er später eine für ihn zuerst nur kaum fassbare Wandlung ins Glück. Halten sich Anna und Wronski gemeinsam für glücklich, spüren sie alleine immer wieder die schwere Last des Unglücks.

Leo Tolstoi gelingt es mit dieser Methode immer wieder den Bogen zurück zur Einleitung und seinen Schlüsselfragen zu spannen.

Gedanken für jedermann

Auch durch seinen fast durchaus neutralen Erzählstil – Tolstoi bewertet nicht und greift nur sehr selten in das Geschehen ein – gelingt es dem Autor, jedem Leser einen persönlichen Zugang zu dem Buch zu schaffen. Durch wiederkehrende Wechsel der Erzählperspektive (eine Ausnahme stellt Wronski dar, der für den Leser ein Mysterium bleibt), ist es möglich, einen Einblick in die Gefühlswelt der einzelnen Figuren zu erhalten. Dennoch kann jeder sich seine eigene Meinung zu dem Geschehen bilden.

Anna Karenina ist aufgrund ihres beachtlichen Umfangs und ihrer Sprache keine besonders leichte Lektüre. Dennoch ist das Buch geeignet für jeden, der sich gerne mit Weltliteratur beschäftigt. Es bietet Einblicke in das Leben der Gesellschaft im 19. Jahrhundert und Zeit zum Nachdenken über den Sinn des Lebens. Zudem findet sich reichlich Platz für Selbstreflexionen, zu Beispiel, wie schnell man selbst andere Menschen verurteilt und verschiedene Emotionen 😄

Für den Roman muss man zwar viel Zeit einplanen, aber genau das hat jedes gute Buch, auch reichlich verdient 😉

Beitragsbild: Bild von Darkmoon_Art auf Pixabay 

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