
Lügen über meine Mutter – Daniela Dröscher
Deutschland in den 1980er Jahren. In der Familie von Ela gibt es ein vorherrschendes Thema: Das Gewicht der Mutter. Ist sie zu dick? Ja, findet der Vater. Und nicht nur das: Das Aussehen seiner Frau ist schuld, dass ihm berufliche und soziale Anerkennung verwehrt bleibt. Was bedeuten solche psychischen Belastungssituationen für Familienverhältnisse? Und was macht so etwas mit einem Kind, das zwischen allen Stühlen sitzt?
Nominiert für den Deutschen Buchpreis
Zum ersten Mal habe ich bewusst den Deutschen Buchpreis verfolgt. So ist mir relativ schnell Lügen über meine Mutter von Daniela Dröscher aufgefallen; ein Buch, welches mich aufgrund seiner Thematiken sogleich angesprochen hat.
Denn die autofiktionale Geschichte erzählt nicht nur von den Auswirkungen einer mehr als schwierigen Ehe, sondern auch viel von unserer Gesellschaft.
Eine auffallende Frau
Da ist zum einen die Mutter, die von allen Seiten misstrauisch beäugt wird. Sie ist „Schlesiendeutsche“ und spricht statt Dialekt Hochdeutsch, was in der dörflichen Umgebung, in der die Familie lebt, durchaus ein Alleinstellungsmerkmal sein kann. Das Verhältnis zur Schwiegermutter, die im selben Haus wohnt, ist äußerst angespannt, mitunter erdreistet diese sich sogar, die Post der Schwiegertochter zu öffnen.
Selbstbewusst ist die Mutter auch noch, standhaft, könnte man sogar sagen. Auch das sorgt für Missgunst.
Ein schwerwiegendes Problem
Aber ihr größter Makel ist ihr Gewicht. Sie ist zu dick, sagt ihr Ehemann und das zu jeder sich bietenden Gelegenheit.
Das Aussehen seiner Frau scheint im wahrsten Sinne des Wortes die Schwerwiegendste seiner Sorgen zu sein. Immer und immer wieder werden die seiner Meinung nach überflüssigen Kilos erwähnt, werden zu Waffen in beinahe alltäglichen Streitereien. Sie hätte keine Disziplin, keinen Biss, die Nachbarn reden schon und wäre sie schlanker, hätte man ihm schon längst eine bessere Arbeitsstelle angeboten.
Überhaupt, aufsteigen und soziale Anerkennung, das ist ihm besonders wichtig und relativ bald merkt der Leser, wer hier wirklich undiszipliniert ist.
Wer ist hier wirklich das Problem?
Der Vater ist offensichtlich nicht in der Lage, seine Lebensstandards zu verbessern, er träumt von beruflichen Aufstiegen, ist jedoch nicht fähig, sich in der Firma durchzusetzen. Er träumt von einem stattlicheren Haus, zeigt aber auch in dieser Hinsicht mangelnde Fähigkeiten. Und liest man genauer hin, stellt sich heraus, dass er weder mit Geld noch mit anderen Menschen umgehen kann. Doch all dies, was ihm versagt bleibt, ist nicht seiner eigenen Unfähigkeit geschuldet, sondern einzig und allein dem Gewicht seiner Frau.
Dass das völlig absurd ist, ist klar und doch wirkt sich diese Denkweise auch auf die ganze Familie aus.
Psychoterror
So wird die Mutter immer wieder zu Diäten und Gewichtkontrollen auf der Waage, vor den Augen des Vaters, gezwungen und jede sich bietende Gelegenheit genutzt, sie zu demütigen. Selbst, wenn die eigene Tochter herhalten muss, um sie gegen die Mutter auszuspielen.
„Schlank und rank“, lobte er.
Ich war erleichtert, hatte ich doch Angst gehabt, dass er mich neuerdings nicht mehr so hübsch fand wegen der kurzen Haare.
Trotzdem hörte ich bei seinem Kompliment einen sonderbaren Unterton in der Stimme heraus. Unernst und Angriffslust schwangen gleichermaßen darin. Ich fühlte, wie die Freude verflog und mir übel wurde mit einem Mal. Meine Mutter faltete gerade ein Sommerjackett in den Koffer meines Vaters. Aus den Augenwinkeln registrierte ich, wie ihr Gesicht ebenfalls zuckte. Sie war nicht schlank und rank.
Seite 300
Mit den Augen der Tochter
An dieser Stelle kommt ein weiterer interessanter Aspekt ins Spiel: Ela. Sie wächst in dieser wenig lieblosen Ehe auf und sitzt zwischen den Stühlen. Denn zum einen ist sie die Tochter ihrer Mutter. Sie sieht ihre Mutter leiden, sie sieht, was ihre Mutter leistet. Sie sieht, dass sich ihre Mutter um zwei leibliche Kinder, ein Pflegekind, ihre pflegebedürftige Mutter und den Hausbau kümmert, den Haushalt macht, arbeitet und nebenbei noch für Weiterbildungen lernt. Und sich abends vom Ehemann den Vorwurf gefallen lassen muss, sie hätte wieder keinen Sport getrieben und immer noch nicht abgenommen. („Was machst du eigentlich den ganzen Tag?“, Seite 351).
Sie sieht ihre Mutter mit den Augen eines Kindes, das seine Mutter bewundert und schön findet.
Aber sie ist auch die Tochter ihres Vaters und auch sie leidet mit ihm, wenn sich wieder etwas nicht so umsetzten lässt, wie er es sich wünscht. Und sie übernimmt, wenn auch unbewusst, die Ansichten ihres Vaters. Sie schämt sich für ihre Mutter, was dieser als Trumpf im Ärmel gegen seine Frau nutzt.
Offenbar witterte er eine Chance, sich wieder ins rechte Licht zu setzen. Auf einmal war ich das Problem, nicht er.
Ich schwieg. Ich verstand selbst nicht, warum ich einen solchen Widerstand in mir fühlte.
„Ha“, rief mein Vater, mit einem Mal triumphierend. „Da siehst du’s. Deine eigene Tochter schämt sich für dich“.
Seite 289
Besonders schwer zu ertragen ist da die Szene im Vater-Tochter-Urlaub (zu dem die Mutter nicht mitdurfte – zur Strafe), in welcher der Vater wieder seine zwischenmenschliche Unfähigkeit unter Beweis stellt, und seine minderjährige Tochter bittet, ihrer Mutter doch mal ins Gewissen zu reden.
Die Stimme meines Vaters riss mich aus den Gedanken.
„Wenn du mit ihr redest – vielleicht hört sie ja auf dich?“ Richtiggehend verzweifelt sah er aus.
„Was meinst du?“ Ich spürte, wie alles in mir erstarrte.
Kurz nur zögerte er noch.
„Sag du ihr, dass sie endlich abnehmen soll“.
Seite 305
Solche Momente sind kaum zu ertragen, auch nicht die im Schwimmbad, in der anscheinend alle anwesenden Badegäste Anstoß am Gewicht der Mutter nehmen.
Da haben wir’s wieder: Die Gesellschaft
Weshalb sollte man ein Buch, das mit solch schwer zu ertragenden Textstellen aufwartet, lesen?
Weil es auch viel über unsere heutige Gesellschaft erzählt.
Denn die Gesellschaft ist der dritte wesentliche Bestandteil des Buches.
Das Ansehen ist so wichtig, die (Dorf-) Gemeinschaft wird immer beschworen, auch wenn das Dorf sich vor allem mittels Lästereien vernetzt. Und es verdrängt die wirklich essenziellen Dinge, auf die Augenmerk gelegt werden sollte:
Warum wird über eine Frau den Kopf geschüttelt, die so viel leistet, dass man schon beim Lesen Schweißausbrüche bekommt? Weil sie nicht schlank ist?
Warum schüttelt niemand den Kopf über einen Mann, der nicht in der Lage ist, einfache Aufgaben im Haushalt zu erledigen, der während der Geburt seiner zweiten Tochter mit Dorfbewohnern trinken geht, der allein in Skiurlaub fährt, während seine Frau mit zwei Kindern zurückbleibt und dann, nach seiner Rückkehr, die Familie beinahe in eine äußerst bedenkliche finanzielle Lage stürzt? Und der noch dazu von seiner ach so unfähigen Frau aus dieser Lage gerettet wird?
Leseempfehlung
Lügen über meine Mutter ist kaum zu ertragen, macht wütend und das ist gut so. Denn es bietet an, sich an dieser Stelle auch Gedanken über eigene Denkweisen zu machen. Wie sehe ich meine Mitmenschen? Was beeindruckt mich wirklich? Was nützt ein stattliches Haus, wenn die Fassade dahinter bröckelt?
„Von vorn betrachtet sieht ein Haus meist besser als von hinten aus“, sagte schon Wilhelm Busch. Dies trifft nicht nur auf die Familie von Ela, sondern bestimmt auch auf viele andere Familien zu. Und deswegen ist es gut, dass Bücher wie Lügen über meine Mutter geschrieben werden.
Damit der Fokus nicht mehr nur auf die äußere Fassade gerichtet wird, damit sich Menschen früher aus gesellschaftlich auferlegten Korsetten befreien können, als es Elas Mutter konnte und damit Narrative, wie die vom Vater verbreiteten, früher als das entlarvt werden, was sie eigentlich sind: Lügen.
Lügen über meine Mutter von Daniela Dröscher erschien 2022 im KiWi-Verlag und kostet 24,00€
Beitragsbild: Bild von Nicky ❤️🌿🐞🌿❤️ auf Pixabay


3 Kommentare
Jakob, Winfried
Hallo Anna 😊 ❤,
vielen Dank für Deine Rubrik “ Zeitgenössische Literatur“ und Deine Rezession, des nicht einfach zu lesenden oder auch zu ertragenden Buches von Daniela Dröscher “ Lügen über meine Mutter“.
Ich habe schon vor einigen Wochen einen längeren Beitrag und ein Inteview der Autorin im SPIEGEL gelesen…..aber mich bisher nicht an diese schwierige Geschichte „herangetraut“ . Vielen Dank für Deine „Vorarbeit“ und literarische Hilfestellung. 😉📚 Mal sehen, vielleicht wage ich mich jetzt doch an diese empörende Familiengeschichte.
Liebe Grüße
❤🙋♂️
Sonnenbücher
Hallo 😊❤
Ich freue mich sehr, wenn dir meine neue Rubrik gefällt!
„Lügen über meine Mutter“ kann ich wirklich empfehlen! Man muss zwar durchaus die Zähne zusammenbeißen, aber das ist das Buch wert 😉
Ganz liebe Grüße zurück ❤
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