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Bücher,  Zeitgenössische Literatur

Nebenan – Kristine Bilkau

Ein kleiner Ort, irgendwo am Nord-Ostsee-Kanal, kurz nach Neujahr. Mitten aus dem Alltag heraus verschwindet eine Familie. Das nun fast leerstehende Haus wird zum gedanklichen Zentrum der Nachbarn, die alle umeinander kreisen, scheinbar unbemerkt. Und doch kreuzen sich immer wieder ihre Wege, auf der Suche nach dem, was sich wohl jeder sehnlichst wünscht.

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Nebenan von Kristine Bilkau stand dieses Jahr auf der Shortlist des Deutschen Buchpreis und ist der zweite Roman (mit Lügen über meine Mutter) der Endauswahl, der mich besonders interessiert hat.

Sehnsucht

Im Mittelpunkt von Nebenan stehen zwei sehr unterschiedliche Frauen. Julia ist Ende Dreißig und mit ihrem Partner erst kürzlich in das Dorf gezogen. Sie ist Keramikerin und betreibt einen kleinen Laden mit angeschlossener Werkstatt. Ihre Einnahmequelle ist jedoch hauptsächlich das Internet, der Großteil ihrer Bestellungen gehen online ein. Überhaupt ist das Internet ein wichtiger Bezugsort für sie, eine regelrechte Quelle der Sehnsucht.

Denn ist sie gerade mal nicht dabei, Bestellungen abzuwickeln, schaut sie sich scheinbar glückliche Familien an, die ihr Leben online preisgeben. Und auch wenn sie diese Zurschaustellung (wie der Überlebenskampf eines Frühchens) irgendwie abstößt, ist da diese Sehnsucht nach genau dieser inszenierten Idylle: Julia wünscht sich sehnlichst ein Kind.
Vielleicht ist das der Grund, warum sie das verlassene Grundstück nebenan nicht loslässt, warum ihre Gedanken unaufhörlich neben dem eigenen, ungeborenen Kind um die verschwundenen Kinder aus dem Nachbarhaus kreisen, deren Schicksal so unergründlich bleibt wie die halb herangezogenen Jalousien des Hauses.

Vermissen

Die andere Hauptfigur ist Astrid, Anfang Sechzig, die im Stadtkern eine Arztpraxis hat, Mutter dreier erwachsener Söhne ist und sich um ihre betagte Tante sorgt. Auch ihre Gedanken kreisen um ein leerstehendes Haus, genau genommen sogar um zwei: Das Haus der verschwundenen Familie und das Haus ihrer Nachbarin und ehemaligen guten Freundin Marli, nach deren Freundschaft sie sich so sehnt wie Julia nach ihrem Kind.
Das Leersein, das Verlassen werden, der Verfall sind die Themen, die sich durch Kristine Bilkaus Roman ziehen.

„Ein Miteinander wie eine soziale Studie“.
Seite 23

Vergangenheit

Die leerstehenden Häuser, die Geschäfte, die immer mehr verkommen, sie alle stehen sinnbildlich für die Suche nach Geborgenheit und Zugehörigkeit, die die beiden Hauptfiguren und ihre Mitmenschen beschäftigt und die einen unweigerlich beim Lesen mit ergreift. Geschäfte, die einst das Miteinander prägten, sind nicht mehr da. Die Landschaft am Wasser ist von Plastikpartikel durchzogen. Und ein Jugendhaus, das verlorene Jugendliche beherbergte, steht vor dem Abriss. Die Trauer um das Vergängliche ist allgegenwärtig, der Wunsch der Charaktere, dies festzuhalten, spürbar.

Grusel

Und dann ist da noch der leichte Grusel, der einen überfällt, wenn man gemeinsam mit Julia das stumme Haus von nebenan beobachtet, deren Jalousien beinahe schon vorwurfsvoll zurückzublicken scheinen.

Oder wenn man gemeinsam mit Astrid die anonymen Briefe öffnet, die sie seit einiger Zeit erhält. Ab diesem Zeitpunkt widmet Kristine Bilkau weiteren substanziellen wie tiefsinnigen Themen. Wo fühlen wir uns sicher? Wieviel Raum dürfen, sollen wir unseren Ängsten, unserem Unwohlsein geben? Wann sollten wir genauer hinschauen, wenn nebenan der Briefkasten überquillt?

„Sie nennt die Sache einen Unfall, aber sagt Un-Fall. Genau wie Haus-Kleid. Ein Un-Fall, nichts, das aus heiterem Himmel kommt, kein unglückliches oder tragisches Geschehen, nein, so war Elsas Wort nicht gemeint, sondern es ging um etwas Vermeidbares, etwas war abwendbar gewesen, mehrere Menschen hatten es gesehen und sich schuldig gemacht“.
Seite 129

Feinheiten

Die Sprache des Romans ist dabei eine Mischung aus belanglos, melancholisch, traumartig und fein realistisch, sprachlich und metaphorisch erschafft Kristine Bilkau eine interessante Studie des Miteinanders.

„Die Landschaft ist in kaltblaues Licht getaucht. Ein riesiger Frachter schiebt sich durch das Wasser, zwischen Schiffswand und Kanal liegen nur wenige Meter. Auf der Brücke steht jemand, er winkt, sie blickt sich unsicher um, aber es scheint, als wäre sie gemeint, und sie winkt zurück“.
Seite 117

Als Fan solcher Romane, die vom (stillen) miteinander leben erzählen, von Gesellschaften und der Suche nach, hat mich Nebenan sehr beeindruckt. Der Autorin gelingt es, trotz der ruhigen, fast schon ein wenig trägen, Entwicklung der Handlung, zu faszinieren. Sie regt zum Nachdenken an, sie beschreibt die Figuren nah. Wenn Julia erneut feststellen muss, dass ihre verzweifelten Bemühungen, schwanger zu werden, wieder scheitern, bin ich so gerührt, dass ich am liebsten weinen möchte; so spürbar ist ihre Enttäuschung.

Und sie erschafft Spannung, ohne dabei reißerisch zu werden. Ihre Antworten sind fein durchwebt und bieten reichlich Gelegenheiten für eigene Interpretationen.

Genau das ist es auch, was den Roman so besonders macht: Er erzählt, aber gewährt den Figuren noch ein wenig Privatsphäre. Er lässt sie undurchschaubar wirken und lässt ihnen offen, ob sie ihre Geheimnisse offenbaren möchten.
Bei solcher Feinfühligkeit kann es geschehen, dass manche Jalousien geschlossen bleiben. Aber manchmal muss das auch so sein.

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Nebenan von Kristine Bilkau erschien 2022 im Luchterhand Literaturverlag für die Penguin Random House Verlagsgruppe und kostet 22,00€.

Beitragsbild: Peggychoucair auf Pixabay

2 Kommentare

  • Jakob, Winfried

    Liebe Anna,
    erneut eine hochinterressante Rezension , mit der Du uns das Buch “ Nebenan“ von Kristine Bilkau näher bringst. Deine krtitsche Besprechungen ( mit positiven und negativen Aspekten) lesen sich selbst wie spannende Romane. Du beschreibst eindringlich die Gefühle der handelnden Personen und man hat das Gefühl alleine durch Deine Worte sie ein bisschen zu kennen. Ich fühle mich sehr angesprochen.

    Ich glaube, dieses Buch von Frau Bilkau werde ich wohl eher lesen, als “ Lügen über meine Mutter“, da muss ich noch ein klein wenig Mut tanken.

    Liebe Grüße
    Winfried

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