
Die dunklen Sommer – Miranda Beverly-Whittemore
Die fragile Jugendliche Saskia ist einsam und ohne familiären Rückhalt. Doch in der Gemeinschaft Zuhause findet sie einen Platz im Leben. Besonders der charismatische Abraham gibt ihr und anderen verlorenen Jugendlichen das Gefühl, vollkommen und behütet zu sein. Als ihnen jedoch Zuhause genommen werden soll, müssen sie eine schwerwiegende Entscheidung treffen. Eine Entscheidung, die sie Jahrzehnte später wieder einholen wird.
Ein Bild sagt mehr als tausend Worte
Die dunklen Sommer besticht zunächst einmal mit seinem außergewöhnlich schönen und zugleich unheimlich wirkenden Cover. Ein düsteres Bild von einem dunklen See mit Blockhütte, dazu die helle Schrift, die vor dem dunklen Hintergrund beinahe leuchtet: Schon die optische Erscheinung des Buches zieht in den Bann. Es verspricht Geheimnisse, Grusel und offenbart, dass sich zwischen den Seiten mehr verbirgt, als man auf den ersten Blick erahnen könnte.
Vom Regen in die Traufe
Und der Inhalt hält, was sein Cover verspricht. Die Geschichte von Saskia ist bereits ab der ersten Seite so mystisch, spannend und beklemmend geschrieben, dass es nur äußerst schwerfällt, das Buch zur Seite zu legen. Während die Handlung parallel zwischen Gegenwart und Vergangenheit verläuft, zeichnet Miranda Beverly-Whittemore die tragische Geschichte eines Menschen, dessen Leben schon früh von Schicksalsschlägen geprägt war und der sich seitdem verzweifelt bemüht, Halt im Leben zu finden.
Durch die Verknüpfung traumatischer Ereignisse gelangt Saskia in eine Kommune, die sich Zuhause nennt und ihr, der Heimatlosen, genau das bietet. Angesiedelt zwischen dichten Wäldern findet sie zwar die ersehnte Zugehörigkeit, gerät aber auch unmerklich in einen gefährlichen Strudel aus Abhängigkeit und Manipulation.
Wer ist Saskia?
Nach und nach wird Zuhause immer unsicherer, die Gemeinschaft scheint von außen und von innen bedroht. Um sich diese Sicherheit zu bewahren, muss Saskia zu schweren Mitteln greifen, um sich selbst und das, was ihr wichtig ist, nicht zu verlieren.
Die Figur Saskia wirkt von Anfang an undurchsichtig, befremdlich, beinahe schon merkwürdig. Sie scheint unnahbar, kaum zu fassen. Viele ihrer Entscheidungen, Gedanken und Reaktionen sind nur schwer nachzuvollziehen.
Nach der von Abraham verkündeten Prophezeiung (Saskia soll einen Mord begehen und Mitbewohner Ben heiraten) kreisen ihre Gedanken in erster Linie um die angebliche Hochzeit.
Eine für eine Teenagerin gar nicht so unübliche Reaktion. Und dennoch: Dass ein Erwachsener ihr erzählt, gemäß einer Prophezeiung wird sie sich eines Mordes schuldig machen und sie dies nicht zumindest ein bisschen gruselig findet, mutet eigenartig an.
Spätestens ab diesem Punkt stellt sich die Frage, was damals in ihrer Familie tatsächlich passiert ist. Und wie viel Schuld Saskia dabei tatsächlich auf sich geladen hat.
Dann sagte Großmutter zu mir: „Dein Bruder ist heute gestorben, Saskia. Verstehst du mich? Er hat nicht überlebt. Dein Vater ist natürlich dafür verantwortlich. Deine Mutter regt sich verständlicherweise sehr auf. […] Du sagst ihnen, was dein Vater getan hat. Und damit ist die Sache erledigt“.
Seite 121
Keine Sympathieträger
Jedoch ist anzumerken, dass kaum eine Person in Die dunklen Sommer auftritt, die Sympathien weckt. Egal, ob es die seltsame Saskia ist, die etwas intrigante Cornelia, der barsche Ben oder der manipulative Abraham. Mit niemandem möchte ich gerne an einem abgeschiedenen Ort zusammenleben.
Dennoch bietet der Roman allerlei Gründe, ihn zu lesen, allen voran das Thema Sekte. Diesem wurde sich auf gelungene und anschauliche Weise genähert. Wie es möglich ist, sich von manipulierendem Gedankengut einer Sekte verführen zu lassen, ist vor dem Hintergrund von Saskias und den der anderen Jugendlichen durchlebten Erfahrungen nachzuvollziehen und auch ebenso nachvollziehbar beschrieben. Von den Menschen, die für einen sorgen sollten, allein gelassen, mit verlockenden Versprechungen geködert – natürlich wirkt Zuhause unter diesen Umständen wie ein einziger Lichtblick.
Gelungene Umsetzung
Der Schreibstil schwankt dabei zwischen traumartig schöner Melodie und erschreckender Klarheit. Auch die Beschreibung der Natur, die Heimat und Geborgenheit ausstrahlen kann, aber auch Bedrohung und Macht, ist vortrefflich gewählt. Die Figuren werden den Lesern durch die Schilderung ihrer Schicksale so nahe gebracht, dass man mit ihnen mitfiebern kann. Jedoch bleiben sie zugleich rätselhaft und reserviert, sodass sie und ihre Handlungen dennoch mit nötigem Abstand betrachtet werden können. Diese interessante Methode trägt zur konstanten Spannung bei; so unberechenbar wie seine Figuren ist auch die Entwicklung der Geschichte.
Die dunklen Sommer ist das erste Buch von Miranda Beverly-Whittemore, welches ich lesen durfte. Aufgrund der klugen und spannenden Erzählweise der Autorin wird es aber definitiv nicht das letzte sein.
Die dunklen Sommer von Miranda Beverly-Whittemore erschien 2022 im Insel-Verlag und kostet 16,00€.
Beitragsbild: robert1029 auf Pixabay

