
Jahre mit Martha – Martin Kordić
Fünfzehn Jahre alt ist Željko, genannt Jimmy, als er Martha kennenlernt. Martha ist die Frau, für die seine Mutter putzt, unter anderem, denn die Einwanderungsfamilie ist auf jeden Cent angewiesen. Trotz des großen Altersunterschieds und den voneinander abweichenden Lebensrealitäten verlieben sich Jimmy und Martha ineinander. Und es offenbart sich für Jimmy eine neue Welt, eine Welt, deren Zugehörigkeit und dem Wunsch danach er immer wieder infrage stellen muss.
Verunsichert
Jahre mit Martha war eins der Bücher, die ich innerhalb meines Lesekreises lesen durfte und seit Beenden der Lektüre beschäftige ich mich mit dem Roman. Zurückgelassen hat er mich mit recht zwiespältigen Gefühlen und ich war lange unsicher, wie und ob ich diese so formulieren kann und darf. Beachtet daher bitte, dass es sich hierbei um meine ganz persönliche Meinung handelt und ihr diese nicht teilen müsst.
Liebe oder … ?
Vordergründig steht die Liebesgeschichte zwischen Jimmy und Martha im Mittelpunkt des Buches. Ihr erstes Kennenlernen findet am Geburtstag seiner Mutter statt; sie eine gestandene Frau, verheiratet, Mutter, Professorin in Heidelberg. Er fünfzehn, Schüler, der mit seiner fünfköpfigen Familie in einer Zweizimmerwohnung lebt. Während eines Sommers entwickeln sich Gefühle und eine zarte Romanze, die besonders von Abwarten und gegenseitigem Beobachten gekennzeichnet ist.
Später treffen sie sich wieder, während seines Studiums, für das Martha bürgt. Schon vorher hat sich eine leichte (finanzielle) Abhängigkeit offenbart, mit der Bürgschaft und einer Kreditkarte auf Marthas Namen, die Jimmy benutzen darf, wird diese überdeutlich. Eine großzügige Geste von Seiten Marthas oder eine subtile Form der Kontrolle? So ganz klar wird das nicht.
Jimmy scheint sich dieses Zwiespalts durchaus bewusst, dennoch nimmt er, der Zeit seines Lebens kein Schmarotzer sein, nicht negativ auffallen, nichts geschenkt bekommen möchte, sondern ein „guter Ausländer“ sein will, dieses Geld kommentarlos an.
Freundschaft oder … ?
Während seines Studiums lernt Jimmy Alex Donelli kennen, einen exzentrischen Professor für Literatur. Auch dieser bringt ihn in eine Abhängigkeit, in diesem Fall in eine emotionale. Jimmy wird zu seiner rechten Hand, erledigt alles für ihn, unterwirft sich ihm regelrecht. Darüber hinaus vernachlässigt Jimmy alles andere. Nachdem Donelli ihn eiskalt hat fallen lassen, hat Jimmy große Mühe, einen Dozenten zu finden, der seine Abschlussarbeit prüft.
Dass sich Alex Donelli Jimmys Bereitwilligkeit schamlos zu Nutzen macht, ist schon lange vorher ersichtlich, der Moment der „Trennung“ dennoch kaum zu ertragen.
Zusammenbruch
Nach seinem Uniabschluss nimmt Jimmy einen sinnlosen Job an und stürzt in eine schwere psychische Krise. Er wird kriminell, depressiv, verliert seine Arbeit und dann, nach einem abrupten Schnitt, gegen Ende des Romans Gärtner. Ausgerechnet Gärtner, der Beruf, der ihm zu Schulzeiten vorgeschlagen wurde, eine Situation, die in ihm den Wunsch erweckte, besser, mehr als das zu werden.
Dennoch findet Jimmy seinen Frieden und es schließt sich der Kreis.
Vorsicht! Eigene Meinung 😅
Die Expression und Erzählweise von Jahre mit Martha haben mir gut gefallen. Die Sprache schwankt zwischen langen, poetischen Sätzen und knallharter Ausdrucksweise. Auch die Erzählung und die Sicht des Kindes einer Einwanderungsfamilie und die Schilderung der Erfahrungen ebenjener haben mir gefallen.
Leider gab es bei diesem Buch jedoch mehrere Punkte, die mir hingegen nicht gefallen haben.
Die „Beziehungen“, die Jimmy zu Martha und Donelli führt, haben mich eher verstört. Grundsätzlich bin ich Verteidigerin des Ausspruchs „Wo die Liebe hinfällt …“ und das gilt auch für große Altersunterschiede. In den hier beschriebenen Fällen kann ich dem jedoch nicht zustimmen, die Machtverhältnisse sind hier zu groß, als dass ich von Liebe sprechen könnte.
„Die Liebe ist eine durch und durch paradoxe Angelegenheit“.
Seite 72
Die Figur Jimmy konnte ich nicht ganz verstehen. Warum er so widerspruchslos Marthas Geld nimmt, ist mir nicht ganz schlüssig. Auch, warum er sich Donelli so sehr unterwirft, konnte ich nicht nachvollziehen. Verständlich, er ist während seines Studiums auf jede Unterstützung angewiesen. Und wer wäre als Student nicht dankbar für solch eine Geldquelle? Aber für eine Person, die als so intelligent und ambitioniert dargestellt wird, mit einem so großen Wunsch, nicht anzuecken, nicht als „schlechter Ausländer“ zu gelten, fand ich dieses Verhalten dann doch zu widersprüchlich.
Bitte nicht falsch verstehen!
Schwierig fand ich auch den Umgang mit Jimmys Migrationshintergrund. Rassismus existiert leider und auch im Jahre 2023 scheinen viel zu viele Menschen immer noch nicht mitbekommen zu haben, dass ein gewisser Artikel 3 im Grundgesetz existiert. Davon mal abgesehen, dass man auch ohne das Wissen um diesen niemanden zu diskriminieren, herabzuwürdigen, beleidigen etc. hat. Und bedauerlicherweise hat Deutschland auch eine sehr düstere Vergangenheit, die niemals vergessen werden darf, wie auch ich nicht müde werde zu betonen.
Dennoch fand ich die Darstellungen im Roman recht überzogen. Alles, was Jimmy widerfuhr, wurde auf seine Einwanderungsgeschichte zurückgeführt und Deutschland insgesamt sehr düster gezeichnet. Die Sache mit Donelli hat meiner Beobachtung nach jedoch kaum etwas mit seinem Migrationshintergrund zu tun, genauso wenig wie sein berufliches Scheitern. Jedem anderen Menschen könnte das, was im Roman geschildert wird, passieren. Die Schuldumkehr während des Sozialbetrugs, an dem Jimmy sich ohne schlechtes Gewissen beteiligt, fand ich etwas merkwürdig, ebenso die Vorwürfe, die Jimmy während der Zeit der Fußballweltmeisterschaft äußert. Auch ich bin kein Fan von Fußball, Fußballspielern, Autokorsos, einstudiertem Torjubel und extra auf das Event abgestimmten Lebensmitteln.
Nichtsdestotrotz bin ich der Meinung, dass sich auch deutsche Fußballfans freuen dürfen, wenn „ihr“ Land ein Spiel gewinnt. Aus der Freude der Menschen, eine WM in ihrem Land „feiern“ zu dürfen, Rassismus herauszulesen, fand ich etwas arg weit hergeholt. Und die in diesem Zusammenhang geschilderte Sache mit dem Bären erst recht. An dieser Stelle habe ich mich durchaus gefragt, was der Autor damit sagen möchte. Und was genau er eigentlich erwartet.
Und last but not least …
Schade fand ich auch, dass während des Romans mehrfach extreme Zeitsprünge vorkamen. Besonders gegen Ende des Romans fehlten meiner Meinung nach notwendige Erklärungen. Dadurch ging für mich leider ein Teil der Handlung verloren.
Ein wenig enttäuscht haben mich auch die leichten Untertöne hinsichtlich Jimmys Berufsentwicklung am Ende: Ist eine Ausbildung zu einem Handwerksberuf nach einem Studium wirklich ein soziales Scheitern? Besonders, wenn dieses Studium im Grunde keinerlei berufliche Erfüllung brachte? Oder ist dies bloß auf Jimmys jahrelange Ambitionen bezogen, die er letztlich doch nicht umsetzen konnte?
Doch kann bei einer erfüllenden Tätigkeit tatsächlich von Scheitern die Rede sein?
Es ist schon schlimm genug, dass „Rechtfertigungen“ wie „Ich habe leider nur eine Ausbildung gemacht …“ existieren, da müssen solche Narrative nicht noch mehr weitergetragen werden.
Kommen wir mal zum Ende 😄
Jahre mit Martha hat für mich unglaublich stark angefangen, ab der Hälfte jedoch leider sehr nachgelassen. Doch auch, wenn meine Rezension nicht ganz so positiv ausfällt, möchte ich den interessanten Schreibstil und das spannende Thema hervorheben sowie die mutige Erzählweise (besonders die Schilderungen des Krieges!) des Autors. Und allen, die sich für Einwanderungsgeschichten und Psychologie interessieren, kann ich Jahre mit Martha sehr empfehlen!
Jahre mit Martha von Martin Kordić erschien 2022 im S. Fischer Verlag und kostet 24,00€.


Ein Kommentar
Winfried
Bravo Anna 👍
Eine beeindruckende, ehrliche und hilfreiche Rezension. Es ist wichtig, auch mal gegen den Zeitgeist zu schwimmen. Man sollte den Mut haben, seine eigene sehr persönliche Meinung zu vertreten, ohne die Toleranz zu verlieren, die andere „Seite“ zu hören. Leider geht dies in unserer aufgeblasenen, hysterischen Social Media Welt (aber nicht nur dort) 🙄 immer mehr verloren.
Winfried 😉🙂🤗