
Daheim – Judith Hermann
Daheim von Judith Hermann erzählt die Geschichte einer Frau, die am Meer ein neues Leben beginnen möchte, das alte jedoch nicht so leicht abschütteln kann.
Ich persönlich bin ein großer Fan von Judith Hermanns Werken. Ihre Texte sind stets tiefgründig, nüchtern und gleichzeitig aufwühlend, manchmal zutiefst traurig und sie erzählen immer von Menschen, die alle ein bisschen verloren sind. Daheim ist da keine Ausnahme.
Kistendenken
Die Ich-Erzählerin, deren Name nie zur Sprache kommt, erinnert sich gleich zu Beginn an eine Situation, die dreißig Jahre zurückliegt, zu einer Zeit, in der sie eine gleichmäßige und eintönige Stelle in einer Zigarettenfabrik besetzte.
Als einsam wird sie beschrieben, als Mensch, der sich nur schwer anpassen kann, zugehörig und irgendwie doch nicht einer merkwürdig tristen Welt.
„Damals, in diesem Sommer vor fast dreißig Jahren, wohnte ich im Westen und weit weg vom Wasser. Ich hatte eine Einraumwohnung im Neubaugebiet einer mittleren Stadt und Arbeit in der Zigarettenfabrik. Die Arbeit war simpel, ich musste darauf achten, dass der Tabakstrang ganz gerade in den Zerteiler lief, das war alles; eigentlich machte das die Maschine, sie hatte einen Sensor, an dem der Strang vorbeischnurrte, und wenn er nicht gerade lag, hielt sie an“
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Ein Bühnenmagier bietet ihr an, als seine Assistentin zu arbeiten, sie müsse dafür nur in eine Kiste steigen und sich zersägen lassen. Ein dubioses, beinahe schon bedrohlich klingendes Angebot, dennoch besucht die Protagonistin den Zauberer und dessen Frau zuhause.
„Es war unbequem in der Kiste, nicht anstrengend, trotzdem unbequem, und es gab diesen einen Moment, in dem ich dachte, ich würde ohnmächtig werden, sie hätten mir was in den Eistee getan, und wenn ich wieder zu mir kommen würde, wäre ich lebendig begraben.
Und einen Moment später dachte ich, ich wäre tatsächlich in zwei Hälften geteilt – nicht körperlich, eher im Kopf.
Vielleicht im Herzen. Mein Herz wäre in zwei Hälften geteilt, ich war da, und ich war ganz woanders.“
Seite 21
Die Geschichte mit der Kiste geht gut aus, das Angebot, mit auf eine Kreuzfahrt zu gehen, lehnt die Protagonistin jedoch ab. Das Eingesperrt sein wird jedoch ein essenzieller Bestandteil der Geschichte werden.
Neubeginn
Dreißig Jahre später zieht sie zu ihrem Bruder in eine norddeutsche Küstenstadt. Was dazwischen passiert ist, erfährt man in kleinen Rückblicken und Erinnerungen der Hauptfigur. Sie lernte Otis kennen, bekam Tochter Ann und trennte sich kurz nach dessen Auszug. Ann befindet sich nun auf hoher See, was sie dort macht, bleibt unklar, ebenso, was sonst noch in den vergangenen dreißig Jahren im Leben der Protagonistin passiert ist.
Es ist diese Ungewissheit, die Judith Hermanns Figuren so interessant machen, die sie nahbar und zeitgleich unnahbar wirken lassen.
Ihre Verlorenheit spiegelt sich in zahlreichen Facetten wider:
Auf der Suche
Da ist Bruder Sascha, der ein Lokal betreibt und eine Beziehung mit der wesentlich jüngeren, tragisch sozialisierten Nike führt. Was der eine an dem anderen findet, ist nicht ersichtlich, Sascha möchte Nike helfen, aber ob er nicht eigentlich vor allem sich selbst helfen möchte, das kann man nur erahnen.
„Aber das Haus steht mitten im Dorf, das Dorf ist mit fremd, und darüber hinaus ist es unmöglich, mit meinem Bruder zusammenzuwohnen. Es genügt schon, gemeinsam zu arbeiten, und wir möchten beide, wenn auch aus verschiedenen Gründen, dasselbe – alleine sein.“
Seite 27 ff
Dann ist da Künstlerin Mimi, die „leben“ möchte und dies unter anderem mit nackt im Hafen schwimmen kundtut und ihr Bruder Arild, der noch viel weniger zu durchschauen ist.
Der schweigsame, zupackende, düstere Mann fasziniert die Protagonistin. Er bringt, ebenso wie Nike, das wiederkehrende Motiv des „Eingesperrt sein“ in Form einer Maderfalle mit ins Spiel, in der sich sämtliche Tiere, bloß nie ein Mader, verfangen.
Und zu guter Letzt ist da noch Exmann Otis, welcher der Protagonistin seitenlange Briefe schreibt und dessen Wohnung voll von unzähligen Gegenständen ist. Er ist ein Sammler, ein sogenannter Prepper, der den Untergang der Welt befürchtet.
Was ihn und die Protagonistin ursprünglich einmal miteinander verbunden hat? Auch das kann man nur erahnen.
Symphonie der Melacholie
All diese Charaktere, die eingesperrt sind und in oder vor unterschiedlichen Fallen des Lebens sitzen, verwebt Judith Hermann auf eine schonungslos ehrliche und fließende Weise. Aus jeder Zeile liest sich die Einsamkeit der Figuren heraus, der Wunsch nach Geborgenheit und die Frage, was „daheim“ eigentlich tatsächlich ist: Ein Ort? Ein Gefühl? Und kann „daheim“ sich wandeln, verändern, ist „daheim“ austauschbar, zu ersetzen?
Bis der neue Ort tatsächlich ein Stück Heimat für die Protagonisten werden kann, müssen zunächst andere Dinge geschehen. Feste, starre Gewohnheiten verändern sich und die Protagonistin kann loslassen. Sie kann sich endlich auf Neues einstellen und sich wieder „auf das Leben verlassen“. (Seite 184)
Daheim von Judith Hermann erschien 2021 im Fischer Verlag und kostet im Taschenbuchformat 13,00€ und in der gebundenen Ausgabe 21,00€.
Beitragsbild: Evgeni Tcherkasski auf Pixabay

