Bücher,  Zeitgenössische Literatur

Ich hätte es wissen müssen – Tom Leveen

Victoria, genannt Tori, ist 16, Mitglied im Softball-Team ihrer Schule – und wird beschuldigt, ihren Mitschüler Kevin mit Facebook-Kommentaren in den Freitod getrieben zu haben. Einen Abend vor ihrer Gerichtsverhandlung klingelt plötzlich ihr Telefon. Am anderen Ende der Leitung ist Andy, der entschlossen ist, Selbstmord zu begehen. Tori soll ihm nur einen Grund nennen, dies nicht zu tun.

© Hanser
Die Zeiten von heute

Soziale Medien, Segen und Fluch. Mittlerweile mehr Fluch, wenn man mich fragt, sieht man sich so wunderbare Schöpfungen wie die „Blackout Challenge“ auf TikTok an. Auch Facebook hat einige diskussionswürdige Dinge hervorgebracht, war vermutlich die Plattform, die „Internet-Probleme“ erst populär gemacht hat. Die Kommentarspalte ist eines davon. Was unbedachte, „lustige“ und „harmlose“ Kommentare auslösen können, wird in Ich hätte es wissen müssen beschrieben.

„Tut dir leid, was du getan hast, oder tut es dir leid, dass du deswegen jetzt Ärger hast?“
Seite 10

Der Wunsch nach Anerkennung

Diese Frage ist im Grunde die, um die sich die ganze Geschichte dreht und die wie ein roter Faden durch das Buch verläuft. Schätzt man sich selbst als guten Menschen ein, sollte die Antwort eigentlich recht einfach sein – aber so einfach ist es nicht.

Tori, das ist klar, ist kein schlechter Mensch. Sie ist nicht von Grund auf böse, sie ist an ihrer Schule nicht gefürchtet, ist keine klassische Mobberin. Und doch hat sie sich dazu hinreißen lassen, fiese Sprüche über einen ehemaligen Freund zu schreiben, in dem Bemühen, der coolsten Clique der Schule zu gefallen. Sie ist eher eine klassische Mitläuferin, was sie eben auch nicht zu einem durchweg guten Menschen macht.
Anerkennung der coolen Leute der Schule ist ihr sehr wichtig und noch wichtiger ist ihr, nicht wie ihr Bruder zu den Außenseitern zu gehören.

Regt zum Nachdenken an

Ihr Bruder ist auch derjenige, der ihr zu Beginn des Buches oben erwähnte Frage stellt und die Tori zunächst einmal völlig missversteht, missverstehen will. Denn Tori ist sich keiner Schuld bewusst.
Stattdessen fühlt sie sich ungerecht behandelt, womit sie in gewisser Weise auch gar nicht mal so Unrecht hat. Von einer besonders eifrigen, fast schon ein bisschen hysterischen Journalistin bloßgestellt, sieht sie sich nun selbst Anfeindungen ausgesetzt und vom Sozialleben isoliert. Der Zeitungsartikel ist unmöglich, reißerisch, da hat Tori recht. Fragwürdig zudem, denn inwiefern nützt es einem Teenager, der einen schweren Fehler begangen hat, zum Feindbild der Nation erklärt zu werden?

Kaum nachvollziehbar ist hingegen ihre Uneinsichtigkeit, die unter anderem der Grund ist, warum besonders ihr Bruder so wütend auf sie ist. Diese Uneinsichtigkeit ist sehr interessant dargestellt und zwischen gelegentlichem Kopfschütteln über Toris Verhalten und Aussagen gibt es immer wieder Momente, in denen man innehalten und sich fragen muss, wie das damals eigentlich bei einem selbst in der Schule war.
Wie groß der Wunsch war, beliebt (egal, wie man das definieren möchte) zu sein, und wie groß das Bemühen, nicht zu den Außenseitern zu gehören. Wie verletzend es war, doch zu diesen zu zählen und nicht dazuzugehören. Wie schmerzhaft, gar ein Mobbingopfer zu sein. Und wie groß die Enttäuschung, wenn Freunde einen plötzlich nicht mehr cool genug fanden und, noch schlimmer, sich plötzlich den Coolen, den Fiesen, zuwandten.

Ratlosigkeit

Soziale Medien haben dies noch verstärkt. Wer nicht mindestens 100 Abonnenten auf Instagram hat, gilt als „unbeliebt“. (Kleine Herausforderung: Versucht mal, 100 Leute aufzuzählen, die ihr wirklich persönlich kennt.) Der soziale Druck, der eigene Druck und die Hilflosigkeit der Eltern werden in dem Roman ebenfalls thematisiert und besonders letzteres gut dargestellt. Toris Eltern sind wütend und ratlos und wissen sich erstmal nicht anders zu helfen, als Tori jeglichen Internetzugang zu sperren. Keine verkehrte Maßnahme, jedoch spürt man, dass da noch mehr passieren könnte. Und so wird eine weitere interessante Frage aufgeworfen, die gar nicht so leicht zu beantworten ist: Wie reagiert man, wenn das eigene Kind plötzlich zu den „Bösen“ gehört?

Fazit

Was ich mir persönlich gewünscht hätte, wäre ein wenig mehr Charaktertiefe bei Tori und mehr Erklärungen zu ihrem Verhältnis zu Kevin gewesen. Die sehr zart eingebaute Liebesgeschichte ist zwar nicht extrem störend, für die Handlung und Toris Läuterung jedoch völlig unnötig.
Die Aufklärung einiger Rätsel ist zwar sehr emotional und klug durchdacht, dennoch durchaus diskussionswürdig. Wenn jemand, der das Buch gelesen hat, sich melden würde, damit wir uns austauschen können, würde ich mich sehr freuen. 😁

Besonders gut gefallen hat mir das Ende, das eine wichtige Frage vollkommen offen lässt. Diese wird aber im Laufe der Handlung so zweitrangig, dass auf die Antwort gerne verzichtet werden kann. Dass somit der Fokus geschickt auf das eigentliche Wesentliche gerichtet ist, ohne, dass es wirklich auffällt, fand ich großartig.

Ich hätte es wissen müssen ist zwar vielleicht kein Meisterwerk, aber ein sehr wichtiges Buch, das unseren heutigen Zeitgeist versteht und widerspiegelt. Und auch, wenn Facebook vielleicht nicht mehr für die besonders gefährdete Zielgruppe (Kinder und Jugendliche) relevant ist, ist es essenziell, die Gefahren auch auf andere Plattformen* zu übertragen und hinterfragen.

* insbesondere TikTok, worüber ich einen eigenen Beitrag schreiben könnte 🥲

„Ich hätte es wissen müssen“ von Tom Leveen erschien 2015 im Hanser Verlag und kostet 15,90€. Leider ist es zurzeit nur im ebook-Format erhältlich (11,99€), aber auf Medimops und ebay lässt es sich noch finden.

Beitragsbild: Firmbee auf Pixabay

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