Nachtigall
Bücher,  Klassiker

Wer die Nachtigall stört – Harper Lee

Wer die Nachtigall stört. Die achtjährige Scout wächst gemeinsam mit ihrem älteren Bruder Jem in zwar ärmeren, aber wohl behüteten Verhältnissen auf. Ihr Vater, der humanistisch-idealistische Anwalt Atticus erzieht seine Kinder mit ruhiger, verständnisvoller Hand. Doch in die vermeintlich friedliche Idylle drängt sich die grausame Realität des Rassismus, als Atticus den schwarzen Landarbeiter Tom verteidigt. Diesem wird vorgeworfen, eine junge weiße Frau vergewaltigt zu haben. Bei den Bemühungen, Atticus’ demokratisches Gesellschaftsempfinden zu unterstützen, geraten Scout und Jem in große Gefahr.

Ein echter Erfolg

Wer die Nachtigall stört (Original: To Kill  A Mockingbird) von Harper Lee erschien in Jahre 1960. Ein Jahr nach Veröffentlichung erhielt der Roman den Pulitzerpreis. Er wurde in über 40 Sprachen übersetzt und erhielt eine Auflage von unfassbaren 40 Millionen Exemplaren. 1962 wurde das Buch verfilmt. Die gleichnamige Verfilmung gewann drei Oscars, davon einen für den Besten Hauptdarsteller für Gregory Peck als Atticus Finch.

Kontrovers

In den 90er Jahren gehörte Wer die Nachtigall stört zu den am häufigsten aus den Schulen verbannten Büchern in den USA. In einigen Kreisen gilt das Werk bis heute als verpönt. Konservative Kreise stören sich an der negativen Charakterisierung der US-Gesellschaft. Liberale Kreise hadern mit der politisch unkorrekten Sprache und der häufigen Verwendung des N-Wortes.
Diese ist jedoch, auch wenn man beim Lesen an vielen Stellen die Zähne zusammenbeißen muss, von großer Bedeutung für das Buch.

Ungeschönt und deshalb gut

Der brutale Rassismus der Südstaaten, Nachwehen der Sklavenzeit, die bis heute und nicht nur in den USA anhalten, wird ungeschönt durch die Augen eines Kindes beschrieben. Der unverhohlene Hass, die Heuchelei und der beklemmende selbstverständliche Glaube der Existenz einer Zwei-Drei-Vier-Klassen-Gesellschaft spielen in Scouts Umgebung und ihrer Wahrnehmung eine feste Rolle. Diese geschilderte Normalität, in die Kinder hineingeboren werden, wirkt durch Scouts Augen noch erschreckender. Was ist das für eine Welt, in der Kinder von Erwachsenen eingeimpft bekommen, sie wären aufgrund ihrer Hautfarbe wertvoller als andere?

Ein Kind reift

Dass Scout nicht in diesem Glauben aufwächst, ist der große Verdienst ihres Vaters und der wundervollen Handlung des Buches. Scout, die zu Beginn des Buches eine vollkommen normale kindliche Naivität und fehlendes Einschätzungsvermögen an den Tag legt, durchlebt im Laufe der Geschichte eine bemerkenswerte Wandlung. Wie ihr Vater Atticus, der mit klaren und ruhigen Worten statt Waffen kämpft, verwendet in zwei entscheidenden Szenen des Buches Scout die Macht der Sprache, um unbewusst für Frieden zu sorgen. Sei es, einen aufgebrachten Mob zu beschämen oder einer Nachtigall ihren Frieden zu lassen und somit den Titel des Buches zu festigen.

Wiedererkennungswert

Auch ihr Bruder Jem durchlebt eine Wandlung. Von einem idealistischem, vom Glauben an die Menschheit erfüllten Kind zu einem immer noch idealistischen Kind, das jedoch den Glauben an die Menschheit verloren hat. Jems Erschütterung nach dem ersten dramatischen Wendepunkt der Geschichte erfüllt auch den Leser. Man ist selbst völlig fassungslos und angesichts der himmelschreienden Ungerechtigkeit von ähnlichem Ekel geschüttelt, den auch Scouts und Jems Freund Dill erleidet.

Ein Plädoyer

Wer die Nachtigall stört hat mich unglaublich beeindruckt. Die ehrliche Schilderung des Rassismus, die großartigen Auftritte Atticus‘, Scouts kindliche und zuweilen humorvollen Schilderungen sowie ihre charakterliche Wandlung, die gänsehautbereitenden letzten Szenen und Zitate wie

„Aber wenn es nur eine Art von Menschen gibt, warum können sie dann nicht miteinander auskommen? Wenn sie alle gleich sind, warum haben sie dann nichts anderes im Kopf, als sich gegenseitig zu verabscheuen? Scout, so allmählich wird mir was klar. So allmählich wird mir klar, weshalb Boo Radley die ganze Zeit im Haus bleibt … Er tut‘s, weil er drin bleiben will“.

haben dafür gesorgt, dass ich das Buch in nur zwei Tagen gelesen habe.

Es ist ein Plädoyer für mehr Menschlichkeit, ein Gemahnen daran, wie zerstörerisch sinnloser Hass sein kann. Es schildert auf subtile und dennoch harte Weise den Rassismus und erinnert zugleich auf erschreckende Art daran, dass es hinsichtlich diesem noch viel zu tun gibt.

Der Rassismus und das N-Wort sind beim Lesen nur schwer zu ertragen. Aber wie ich schon oben schrieb, manchmal muss das so sein. Manchmal muss man beim Lesen schmerzlich daran erinnert werden, wie grausam diese Welt sein kann. Und genau das macht den Wert solcher Bücher aus und ihre Macht, die Dinge beim Namen zu nennen.
Denn so lange Schwarze immer noch willkürlich auf US-Straßen erschossen werden, Anschläge wie in München, Halle, Hanau, Christchurch, Oslo/Utøja und unzähligen weiteren Orten dieser Welt geschehen und rechtsideologische Parteien Regierungshäuser besetzen, so lange dürfen Bücher wie Wer die Nachtigall stört niemals ihre Bedeutung verlieren.
Und Nachtigallen nicht gestört werden! 🕊

Beitragsbild: Bild von Takashi Yanagisawa auf Pixabay

Coverbild: https://www.rowohlt.de/buch/harper-lee-wer-die-nachtigall-stoert-9783499217548

2 Kommentare

  • Winfried J

    Liebe Anna,
    was soll ich großartig zu dieser Rezension schreiben ?
    Du schreibst und sprichst mir aus der Seele. Ich bin sehr froh, dass Du es Dir zur Aufgabe gemacht hast, solch wertvolle Bücher bei “ Wer die Nachtigall stört“ vorzustellen. Deine Gedanken decken sich mit meinen Überlegungen und gerade der Bezug zur Gegenwart ist eminent wichtig.
    Vielen Dank dafür.
    Das Layout ist übrigens auch sehr gut geworden . Gut leserlich.

    • Sonnenbücher

      Hallo und wow, vielen Dank für deinen Kommentar und das Kompliment! Ich freue mich sehr, dass dir mein neuer „Stil“ gut gefällt 😊
      Außerdem freue ich mich, dass ich dir mit meiner Rezension aus der Seele sprechen konnte. Bücher wie diese dürfen niemals vergessen werden!

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